„Ich bin Europäer“
Auszüge aus: Roman Deininger / Pia Ratzesberger, „Jugend forsch“, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. August 2017
Meris Sehovic leitet das Büro eines Luxemburger Abgeordneten im Europaparlament, Fraktion der Grünen. Dass er das mit gerade mal 25 Jahren tut, ist bemerkenswert; noch bemerkens- werter ist allerdings, dass er es schon seit vier Jahren tut.
„Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“, das war in den 80er-Jahren ein böser Spruch, aber nicht völlig daneben. Damals war das Europäische Parlament noch ein Altersheim für Politik- senioren, die daheim nicht ganz so dringend gebraucht wurden. Der Spruch stimmt heute nicht mehr, die EU hat mehr Macht, die EU hat mehr Anziehungskraft. Heute beginnen politische Karrie- ren in Brüssel, und es ist nicht unbedingt eine schlechte Nachricht, wenn sie dort auch enden. Das gilt für die Abgeordneten genau- so wie für die etwa 60 000 Beamten und Mitarbeiter der europä- ischen Institutionen. Für alle Bewohner der Brüsseler Blase.
Das mit den Karrierechancen, sagt Meris Sehovic, 25, Büroleiter, sei schon richtig. Aber da sei eben noch was, das gehöre auch dazu: „Du kommst nicht nach Brüssel, wenn du nicht an Europa glaubst.“
Für Meris Sehovic ist Europa ein Job und eine Mission. Sein Arbeitsplatz besteht aus Gängen und Büros, die überall gleich ausschauen, ob im Parlament, in der Kommis- sion, in den anderen Behörden. Gleich grau, gleich eng. Gleiche Topfpflanzen. Überall wackeln die Drehstühle, überall hängen mysteriöse Kabel aus der Wand. An den Büros prangen komische Nummern und Buchstabenkürzel, für die man eine dieser Dechiffriermaschinen aus dem Zweiten Weltkrieg bräuchte. Wenn die Franzosen kein Poster vom Eiffelturm aufgehängt hätten und die Spanier keinen Wimpel von Real Madrid – man hätte nicht den geringsten Schimmer, wer drinnen sitzt. Hier arbeiten Menschen, die dieses Europa, über das immer alle reden, zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht haben.
Meris Sehovic ist in Belgrad geboren, in Luxemburg aufgewachsen, hat in München Politik studiert. „Das Land war nie mein erster Referenzpunkt“, sagt er. „Ich bin Europäer.“ Und wie zum Beleg erzählt er die Geschichte, die sie hier fast alle er- zählen. Der Morgen nach dem Brexit-Referendum, ungläubiger Blick aufs Handy, noch im Bett, Schock: Die Briten wollen raus. Im Büro Tränen, Arm in Arm mit den Kollegen, Verzweiflung: Was soll nun werden aus unserem Europa?
Es ist etwas zu Ende gegangen damals, das sieht Sehovic jetzt klar. Aber es hat auch etwas begonnen. Die alte Gewissheit sei weg, sagt er, die Überzeugung, dass die Einheit Europas eine unerschütterliche Bestimmung ist. „Wir spüren ein Gefühl von Zerbrechlichkeit. Es kann etwas passieren, das alles infrage stellt.“
Das Brexit-Votum, sagt Sehovic, sei für viele im Herzen der EU ein Moment der Erkenntnis gewesen: Sie mussten lernen, dass über ihre Zukunft nicht allein hier in Brüssel entschieden wird. Und dass sie deshalb „nicht einfach so weitermachen können“. Es gebe nun, und das sei eben auch neu, eine tiefe Solidarität, eine „echte Entschlossenheit“.
Wenn jemand Europa bedroht, dann nehmen das die jungen Begeisterten in Brüssel persönlich.